Thich Nhat Hanh ist tot (Jana Marek)

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der Brückenbauer, gütige Weisheitslehrer und Pionier für inneren und äußeren Frieden ist kürzlich im Alter von über 90 Jahren gestorben. Durch seine Haltung sowie seine Lebenspraxis hat er Millionen Menschen, wie auch uns berührt, gestärkt und inspiriert. Von ihm stammt u.a. das Wort „Interbeing“, dies meint die Allverwobenheit sämtlicher Phänomene, das Eingebettetsein aller Dinge in ein unendlich komplexes Netz von Beziehungen. Er war ein Meister darin zu zeigen, das wir immer auch die Andere/ der Andere sind, die die wir gerade ablehnen, bekämpfen oder lächerlich machen.

Das erste Video zeigt seine gütige Art mit Leid umzugehen und der zweite Hinweis ist ein Link über sein Lebenswerk. Seine Bücher und Gedichte haben uns schon oft zu tiefen Dialogen eingeladen. Wir hoffen, das seine Botschaften in diesen unsicheren Zeiten vielen Menschen dienen.

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Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen
Von Thich Nhat Hanh

Sag nicht, dass ich morgen fortgehe – denn ich bin noch gar nicht ganz da.
Schau: Jede Sekunde komme ich an, um zu werden
die Knospe am Frühlingszweig,
ein kleiner Vogel mit Flügeln, die noch nicht tragen,
im neuen Nest lern ich gerade erst singen,
eine Raupe im Herzen der Blume
und ein Juwel, verborgen im Stein.

Ich komme gerade erst an, um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist die Geburt und der Tod von allem, was lebt.

Ich bin die Eintagsfliege, die vielgestaltig schillert auf der Oberfläche des Flusses.
Bin auch der Vogel, der gerade noch rechtzeitig kommt, die Fliege zu schnappen.

Ich bin der Frosch, der ganz zufrieden im klaren Wasser des Teichs hin- und herschwimmt, und bin die Schlange, die geräuschlos sich nähernd vom Froschfraß lebt.

Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen mit Beinen so dünn wie Stöcke aus Bambus und ich bin der Kaufmann, der tödliche Waffen nach Uganda verkauft.

Ich bin das zwölfjährige Mädchen, Flüchtling in einem kleinen Boot,
das sich in den Ozean wirft, nachdem es von einem Seepiraten vergewaltigt wurde.
Und ich bin der Pirat, mein Herz ist noch nicht fähig, zu sehen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Politbüros mit reichlich Macht in meinen Händen,
und ich bin der Mann, der seine „Blutschuld“ an sein Volks zu zahlen hat,
langsam sterbend in einem Arbeitslager.

Meine Freude ist wie der Frühling,
so warm, dass sie die Blumen in allen Lebensformen erblühen lässt.

Mein Schmerz ist wie ein Fluss von Tränen, so voll, dass er die vier Meere füllt.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich all meine Schreie und mein Lachen zur selben Zeit hören kann,
damit ich sehen kann, dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte, nenne mich bei meinen wahren Namen, damit ich aufwachen kann
und das Tor meines Herzens offen bleiben kann.
Das Tor des Mitgefühls.

1 Kommentar
  1. Angelika Lütge sagte:

    Welch wunderschöne Worte. Dazu fällt mir ein Text von Hermann Hesse aus seinem Buch „Siddhartha“ ein:

    „Die Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen, oder auf einem langsamen Wege zur Vollkommenheit begriffen: nein, sie ist in jedem Augenblick vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle Sterbenden das ewige Leben. Es ist keinem Menschen möglich, vom anderen zu sehen, wie weit er auf seinem Wege sei, im Räuber und Würfelspieler wartet Buddha, im Brahmanen wartet der Räuber. Es gibt in der tiefen Meditation die Möglichkeit, die Zeit aufzuheben, alles gewesene, seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen, und da ist alles gut, alles vollkommen, alles ist Brahman. Darum scheint mir das, was ist, gut, es scheint mir Tod wie Leben, Sünde wie Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muss so sein, alles bedarf nur meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mir nie schaden. Ich habe an meinem Leibe und an meiner Seele erfahren, dass ich der Sünde sehr bedurfte, ich bedurfte der Wollust, des Strebens nach Gütern, der Eitelkeit und bedurfte der schmählichsten Verzweiflung, um das Widerstreben aufgeben zu lernen, um die Welt lieben zu lernen, um sie nicht mehr mit irgendeiner von mir gewünschten, von mir eingebildeten Welt zu vergleichen, einer von mir ausgedachten Art der Vollkommenheit, sondern sie zu lassen, wie sie ist, und sie zu lieben und ihr gerne anzugehören.“

    Liebe Grüße
    Angelika

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