Corona und Gevatter Hein (Gerlinde Coch)
Nach „Corona“ wird das Leben nicht wieder so sein, wie zuvor. So sagen wir jetzt – mitten in der Zeit von 14-tägig wechselnden Einschränkungen und neuen Verordnungen für den Umgang mit uns und mit Unseresgleichen. In vieler Hinsicht wird das stimmen, die Chance einer neoökologischen Wiederbelebung neben der Gefahr wirtschaftlicher Rezession werden bereits umfangreich diskutiert.
Ein Aspekt, der mir in dieser Diskussion zur Zeit zu kurz kommt, befasst sich mit etwas, was vor und nach Corona unverändert sein wird:
Das Leben wird durch den Tod beendet. Punkt. Danach wie auch davor. Er kommt bereits mit unserer Geburt auf die Erde, lebt neben uns und und nimmt uns dann, wenn es an der Zeit ist, mit. Das wird er weiter tun: mit oder ohne COVID-19-Infektion, durch diese, trotz dieser Erkrankung, oder einfach nur neben ihr. Unveränderlich. So wie er bisher immer kam, durch alle Jahrtausende der Menschheitsgeschichte. Jeder Mensch braucht und bekommt irgendwann in seinem Leben einen Anlass zu sterben. Manche schon als sehr kleine Kinder, manche in hohem Lebensalter, die meisten irgendwo dazwischen. Waren die Anlässe dazu im Mittelater Pest und Cholera, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts Infektionen aller Art, immer wieder Kriege bis hin zu Massenvernichtungen, so sind es in Zeiten relativen Friedens chronische Erkrankungen, die sich zu Multimorbidität summieren bis hin zu Krebs. Daneben, meist weit weg von uns, gibt es Tod durch Verhungern, Verdursten, auch durch psychische und physische Gewalt, die oft nur am Rande beschrieben werden, kaum wahrgenommen von uns satten und zufriedenen Menschen.
Wir haben es sehr weit gebracht, darin, den Tod auf Abstand zu halten, ihn nur im äußersten Notfall zu akzeptieren. Dazu hat unsere moderne Medizin Unschätzbares geleistet, das keiner von uns missen möchte.
Nun kommt da ein unscheinbarer Virus daher, ein klein wenig lebenstüchtiger als seine uns bekannten Vorgänger und erinnert uns wieder: Ihr könnt dem Sensenmann nicht entkommen. Er wird zu seiner Zeit den Platz zu Euren Füßen verlassen und aufrecht neben Euch treten, um euch aus dem Leben zu führen. Unser angeborenes Schutzsystem hat bei Angriffen, die es als bedrohlich identifiziert, zwei Varianten der Reaktion zur Verfügung: Flucht oder Lähmung. Im Moment reagieren wir kollektiv in beide Richtungen: gelähmt in den Wohnungen die einen, hektisch versuchend, den als „Feind“ erkannten Virus in beherrschbare Grenzen zu verweisen, die anderen. Menschen sind in der Versuchung, zu herrschen. Über das Leben. Über die Erde. Über den Tod.
Wie viele Lektionen müssen wir noch lernen, um diesen von Macht beseelten Thron zu verlassen und uns in einen wahren Dialog mit unseren Lebensmaximen, mit unserer Mitwelt, mit unserem persönlichen Lebensende zu begeben?
Ich bin mir der wahrhaft luxuriösen Situation bewußt, dies aus einer scheinbar sicheren Position heraus zu formulieren. Mein persönlicher Tod scheint sich derzeit noch nicht für mich zu interessieren. Dankbar bin ich den Menschen, von denen ich über viele Jahre der Arbeit in einem Hospiz lernen durfte. Sie forderten mich heraus, meine persönliche Einstellung zum Leben zu prüfen, Konsequenzen zu ziehen und einen Weg einzuschlagen, der mir tauglicher scheint, als ein von Angst geprägter. Ein Weg, der in Beziehung sein möchte zu allem, was um mich herum ist. Der mir das Vertrauen gibt, eingebettet zu sein in ein größeres Ganzes, dem ich mein Leben wie es heute ist und auch sein kommendes Ende anheimgeben darf. Das Leben findet jetzt statt. Nicht morgen, nicht gestern, sondern in diesem Moment.
Wir gönnen Menschen am Lebensende inzwischen in Deutschland eine erstklassige, an ihren Bedürfnissen auf allen Ebenen orientierte Versorgung und Betreuung, im besten Falle auch Begleitung. Nun sehen wir als Gesellschaft dem Tod ins Gesicht in Form eines Virus, der am meisten unsere alten und durch Vorerkrankungen geschwächten Mitglieder bedroht. Sofort sehen wir den Feind in ihm und füttern gemeinschaftlich unsere Angst, die dadurch überdimensional groß und mächtig wird und unser Handeln bestimmt.
Ich möchte dazu und darüber hinaus einige Fragen mit Menschen teilen:
- Was benötigen wir für einen kollektiven Blickwecksel?
- Brauchen wir eine Grenze in unserem Bestreben, uns immer weiter von Angst das Leben diktieren und bis zur Unkenntlichkeit einschränken zu lassen? Wenn ja: wie können wir diese finden?
- Was bedeutet für uns eigentlich qualitätvolles Leben vor dem Sterben? Welche Lebensqualität möchten wir auf dieser Erde leben – jetzt, heute, jeden Tag und hier an diesem Ort?
- Sind es wirklich Einsamkeit und Isolation, wie Covid-19 sie uns im Spiegel zeigt, die wir leben möchten und die erst im unmittelbaren Sterben dann wieder aufgehoben sein dürfen?
- Wenn wir Menschen am Lebensende ganzheitlich und bedürfnisorientiert begleiten – was hindert uns und was kann uns förderlich sein, dies bereits in der Zeit der Blüte des Lebens füreinander zu tun?
Ich lebe und atme und freue mich der Sonne trotz der Sorge um den fehlenden Regen. Dabei ist mir sehr bewusst, dass sich meine den Tod akzeptierende Haltung sofort ganz anders darstellen kann, sobald der alte Schnitter mir selbst direkt ins Gesicht schaut.
- Ist das Ausbleiben des Wassers vom Himmel in unseren Breiten vielleicht ein Äquivalent für das Fehlen unserer Tränen des Leidens über all das, was wir der Erde in den vergangenen Jahrhunderten angetan haben?
- Tut es Not, gemeinsam zu trauern um das, was wir Menschen über Jahrhunderte unserer Mitwelt angetan haben, um endlich wieder frei atmen zu können?
- Ist es Zeit, uns in Trauer zu verabschieden von der Illusion, die Erde uns untertan machen zu können, um in ein neues Leben hinein zu wachsen?
Gerlinde Coch, 20.4.2020
Bild: Moritz Schwerin – „Odysseus im Sturm“