Über Spaziergänge (André Gödecke)

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„Was immer du zu sagen hast, lass Wurzeln dran, lass sie hängen mitsamt der Erde, um klar zu machen, woher sie kommen.“
(Charles Olson)

Ich gebe zu, ich leide! Ich leide daran, dass immer mehr mir nahestehende Menschen bei gewissen Spaziergängen mitlaufen – dass sie spazieren gehen auf Veranstaltungen, die meiner Meinung nach alles andere als harmlose Spaziergänge sind. Hier in meiner Stadt werden sie von Gruppierungen wie der „Bewegung Halle“ beworben und bevölkert. Gehe ich auf die Webseite der „Bewegung“, springen mir erstmal Begriffe wie Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung ins Auge. „Es ist Zeit zu reden!“, heißt es dort. Okay, warum nicht? Find´ ich alles gut!

Gehe ich die in die Rubrik „News“, stoße ich auf einen Artikel von einem gewissen Milosz Matuschek zum „Great Reset“, in dem Corona als „Durchlauferhitzer einer Machtergreifung“, als Vorbereitung für eine von China ausgehende Fremdherrschaft, welche in Form eines „hybriden Moulüe-Angriff(s) sinomarxistischer Prägung“ daherkommt.* Oha, man lernt nie aus! Klicke ich auf den Button „Neue Medien Portal“, lande ich schnell bei rubikon.news, einem mir schon bekannten Tummelplatz für Deep-state-Verschwörungstheoretiker, Putin-Fans und selbsternannte Kämpferinnen gegen die Gesundheitsdiktatur.

Während ich hie und da so hineinlese, beschleicht mich fröstelnd der Gedanke, dass ich, anstatt umständliche Artikel zu schreiben, lieber keine Zeit verlieren und losziehen sollte, um mich mit Medikamenten und Lebensmittelkonserven einzudecken. Auch einen Volkshochschulkurs „Chinesisch für Untertanen“ könnte ich zur Sicherheit schnell noch buchen.

Dabei gehören die mir bekannten spazieren gehenden Menschen wirklich nicht zu jenen krakeelenden Brauseköpfen, wie sie in Corona-Demo-Reportagen von den Medien so gerne vorgeführt werden. Es scheint mir, als ob sie mit sich und der Welt über Kreuz liegen. Es scheint mir, dass sie getriggert sind von den Maßnahmen und ihren Folgen für den Alltag. Es scheint mir, dass sie umgetrieben sind von der Frage, wem man überhaupt noch vertrauen kann.

Manchmal, in tieferen Gesprächen, zeigt sich, dass das alles immer wieder auch alte Wunden berührt: Autoritäten aus der Zeit der Kindheit, die über Jahre hinweg manipuliert, unterdrückt und Gewalt ausgeübt haben – es ist, als ob sie geisterhaft und incognito auferstehen in den Entscheidungen von Politikern – und ich glaube, es ist dieses incognito, welches die Verständigung zwischen uns manchmal so schwierig macht.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Auch ich finde manche politische Entscheidung der letzten zwei Jahre mindestens fragwürdig oder wenig durchdacht. So vieles wurde verdöst, versemmelt, verbockt – sei es aus Inkompetenz, fehlender Agilität oder parteipolitischem Kalkül. So viele Menschen und Gruppen wurden nicht gesehen, gehört und unterstützt in ihrer Not. Ich selber habe auch meine Zweifel, ob die aktuelle Strategie „Belohnung und Strafe“ irgendetwas Nennenswertes bewirken soll. Erzieherische Maßnahmen mögen im Straßenverkehr funktionieren und dafür sorgen, dass sich Raserei und wildes Parken in Grenzen halten. Aber für die Bewältigung dieser Pandemie in ihrer Komplexität, und dafür, dass denkende Menschen sich in die richtige Richtung in Bewegung setzen, bräuchte es wohl dringend noch etwas mehr! (Wie wäre es z.B. mit attraktiven und handfesten gesellschaftlichen Visionen für die „Zeit danach“?)

Es ist also mitnichten alles schick. Aber das permanente Streuen derart fundamentaler Zweifel an Demokratie und Zivilgesellschaft, wie es mir bei Milosz Durchlauferhitzer und manch ulkigem Herzliebchen unter den Spaziergängerinnen und Spaziergängern begegnet, scheint mir eher auf Destabilisierungsbemühungen von ganz rechts außen zurückzugehen: Die braune Saat gedeiht am besten auf dem Humus existenzieller Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung.

Aber wie gesagt, unabhängig davon scheint mir manch starke Reaktion auf Corona-Politik ihre emotionale Ladung nicht nur aus dem tatsächlichen Anlass, sondern auch aus den Schatten und Nöten früherer Tage zu beziehen. Ich kann das – wenn es denn zur Sprache kommt – immer wieder nachfühlen und es berührt mich jedes Mal. Ich kenne es von mir selbst. Gleichzeitig spüre ich meine Unlust und mein Bedürfnis nach Schutz vor allzu krassen Erzählungen und den daraus resultierenden Diskussionen. Ich möchte nicht Mal um Mal zum Empfänger von Emotionen werden, die mit den gegenwärtigen politischen Ereignissen als solchen meines Erachtens oft herzlich wenig zu tun haben. Im Grunde wird hier Inneres mithilfe dramatischer Zuschreibungen auf Ereignisse und Personen im Außen projiziert – gerne auch mal auf Personen wie mich:

Hallo hier bin ich – dein persönlicher Karl-Lauterbach-Dummy oder wahlweise auch der Widergänger des doofen Sportlehrers deiner Grundschulzeit – und du kannst alles, wirklich alles an mir auslassen, sobald ich versuche, deinen Diktaturthesen zu widersprechen!

Das heißt nicht, dass ich nun gar nicht mehr Anteil nehmen möchte an dem, was meine lieben Mitmenschen bewegt! Aber Auseinandersetzungen, deren eigentliche Wurzeln im Verborgenen bleiben, geraten halt oft zu überspannten Scheindebatten, in denen keine wirkliche Verbindung, kein wirklicher Raum zwischen den Beteiligten entsteht.

Ich bin mir des dünnen Eises bewusst, wenn es darum geht, die Betreffenden darauf anzusprechen und möchte den Respekt vor persönlichen Grenzen wahren. Aber manchmal will ich sie einfach nur liebevoll anstupsen, kneifen oder kitzeln und Worte wie diese an sie richten:

Du musst nicht eins werden mit den steuerbordseitig hereinflutenden Wogen des Misstrauens!  Du musst nicht den „Great Reset“ befürchten, wenn die Gesellschaft das tut, was Gesellschaften schon immer getan haben beim Hereinbrechen tödlicher Gefahren: Maßnahmen ergreifen – heutzutage gerne auch auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse!

Du musst nicht von Panikmache, Gehirnwäsche oder gar „Gleichschaltung“ reden, wenn die Mehrzahl der Menschen sich dafür entscheidet, eben jene Maßnahmen in ihrem Alltag mitzutragen – mehr oder weniger zumindest, wie es Menschen nun mal eigen ist.

Du musst nicht dem Stamme jener abhandenkommen, die grundlegendes Vertrauen ins Leben haben, und die es begrüßen, wenn der von dunklen Mächten sinomarxistischer Prägung systematisch vorbereitete Bürgerkrieg ruhig noch etwas warten darf – wenigstens bis nach Valentin.

André Gödecke – andregoedecke.de


*www.bewegunghalle.de/news/politik/der-great-reset-ist-ein-technokratischer-putsch

Bild: Carl Spitzweg – „Sonntagsspaziergang“; Quelle: Wikipedia

3 Kommentare
  1. Johannes Schopp sagte:

    Lieber André,
    nun komme ich endlich dazu, dir auch persönlich zu antworten. Dass ich dich sehr schätze als Dialogbegleiter, Entwickler von Ideen und Konzepten, als Kollegen und als Mensch, brauche ich sicher nicht weiter betonen. Das weißt du. Das persönliche Gespräch wäre sicher eine bessere Option. Nun hast du aber deinen Artikel online gestellt. Und du bittest um einen Kommentar. Dem Wunsch will ich hiermit gerne entsprechen.
    Du leidest, schreibst du, darunter, dass Menschen, die du kennst und schätzt, aus deiner Sicht auf der „falschen“ Seite demonstrieren. Ich leide auch. Wirklich. Ich leide daran, was aus unserer ansonsten freien und offenen Gesellschaft, in der ich seit 68 Jahre lebe, geworden ist in den letzten zwei Jahren. Mich macht es ganz traurig und auch hilflos, dass Menschen, die ich sehr schätze wie du plötzlich – vielleicht habe ich vorher auch nicht genau hin gesehen – Positionen in einem Tonfall wie deinem vertreten, die mich irritieren. Es ist, glaube ich, die Massivität und der Wahrheitsanspruch der vorgetragenen Argumente und zwar auf beiden Seiten der argumentativen Gräben. Was steckt eigentlich hinter dieser Verbissenheit hinter dieser scheinbaren Mauer zwischen „richtig“ oder „falsch“? Was ist jetzt passiert? Es gab immer auch Dissensen, und das ist gut so, sie waren aber niemals so trennend wie jetzt in Rahmen von Corona.
    Alles, was der jeweils anderen Seite nicht passt, wird wahlweise abgetan, belächelt oder bekämpft. Gegenseitiger radikaler Respekt ist zur kostbaren Mangelware geworden. Das ist schlimm und hätte ich so nicht für möglich gehalten, erst recht nicht in unserem Verein.
    Ich wünschte mir mehr Leichtigkeit, mehr Humor, mehr Fragen, mehr Forschen nach der Frage hinter der Frage, mehr Erkunden und Staunen für die Sichtweise der „anderen“ wie z. B.: „Was verleitet dich/mich, dieses oder jenes so heftig vorzutragen?“, „Was macht dich/mich so sicher, dass…?“ „Ach, jetzt verstehe ich deine/meine Sicht viel besser.“ „Wie finden wir einen Weg, uns nicht zu entzweien?“ Dieser Ort zwischen „richtig und falsch“, lieber André, wäre für mich „der Ort, an dem wir uns begegnen“ sollten, um den Satz von Hafiz zu verwenden.
    Du hast dir nun die „Spaziergänger:innen“ vorgenommen. Das irritiert mich deswegen, weil der Artikel in meinen Augen holzschnittartig wertend ein Bild abgibt, das ich so nicht teile, mich auch verstört. Ich will hier versuchen, meine Sorgen darüber darzustellen:
    Gleich zu Anfang möchte ich dich fragen, wie anders sollen Menschen, die sich übergangen, ausgegrenzt, in ihrer beruflichen und wirtschaftlichen Existenz und in ihrer körperlichen Integrität bedroht fühlen, ihrem Unmut Ausdruck verleihen und ihrer Stimme Gehör verschaffen? Viele Demonstrationen werden entweder verboten oder durch unrealistische Auflagen unmöglich gemacht. Darüber hinaus werden die Teilnehmenden seit Beginn der Pandemie einseitig als Wirrköpfe und dem “Rechten Spektrum“ zugehörig stigmatisiert. In Berlin wollten zwei Frauen eine Demo „für eine freie Impfentscheidung“ anmelden, wollten an alle Masken verteilen und hatten eindeutig öffentlich erklärt, dass sie keine Rechtsradikalen dabei haben wollen. Fehlanzeige. Verbot. Mit der Begründung, dass es nicht auszuschließen sei, dass sich „Rechte Radikale“ anschließen würden.
    Du nimmst nun in deinem Aufsatz Bezug auf die Internetseite der „Bewegung Halle“. Ich kenne die Seite nicht. Was du daraus zitierst, klingt gruselig. Die „Spaziergänger“, laut Berliner Zeitung von vorgestern, immerhin in dieser Woche 380.000 in ganz Deutschland, sind aber sicher nicht identisch mit solchen oder ähnlichen „Bewegungen“. Der Verfassungsschutz geht davon aus, dass nur ein sehr geringer Teil der Menschen, die seit Wochen ihren Unmut über die staatliche Impfpolitik zum Ausdruck bringen, zu extremen Kreisen zählen. In deinem Artikel scheint klar zu sein, wer diese „Spaziergänger“ sind und wer in Wirklichkeit dahinter steht. Das ist zu einfach. Übrigens ist der „Great Reset“ ein Begriff, der durch Klaus Schwab in die Welt gebracht wurde, nicht von so genannten Verschwörungstheoretikern und seine Visionen dazu können manchen Menschen durchaus Angst machen. Es wird aber hüben wie drüben vieles in einen Topf geworfen.
    Du gestehst denjenigen „spazieren gehenden Menschen“, die du persönlich kennst, zu, dass sie nicht zu den „krakeelenden Brauseköpfen“ gehören. Gut so. Doch woher weißt du, dass „sie mit sich und der Welt überkreuz liegen“? Dass sie alle nur getriggert sind von den Maßnahmen und ihren Folgen für den Alltag? Bis du absolut sicher, dass es so ist? Vielleicht wollen sie einfach nicht mehr bevormundet werden und selbst entscheiden, ob sie sich impfen lassen? Vielleicht wollen sie nicht länger als Sündenbock für die Verlängerung der Pandemie herhalten („Tyrannei der Ungeimpften“, „Egoisten“, „Ichlinge“), vielleicht wollen sie einfach nur wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben, was ihnen seit Monaten verwehrt wird.
    Noch ein Wort zu den „krakeelenden Brauseköpfen“: haben diese Menschen eigentlich ihr Existenzrecht verwirkt? Frühere Parolen der Antifa in meiner Stadt hießen z.B. „Nazis raus!“ Aber wohin? Menschen mit dieser menschenverachtenden Gesinnung sind Teil des Ganzen, und wir müssen uns mit Ihnen auseinandersetzen. Weitere Ausgrenzungen führen m. E. zu weiterer Radikalisierung und zur Vermehrung dieser Gruppe.
    Zurück zu den „Spaziergängern“. Dir scheint klar zu sein, dass dem Seelenzustand der Protestierenden unbearbeitete Kindheitserfahrungen zugrunde liegen. Du möchtest die Spaziergänger:innen am liebsten „einfach nur liebevoll anstupsen, kneifen oder kitzeln… und empfiehlst ihnen, „nachdem [sie sich] „mit den eigenen Schatten bewusst auseinandergesetzt“ haben, „den heiligen Zorn und das Bedürfnis nach Mitgestaltung dort in die Waagschale werfen, wo es um Gerechtigkeit und dringend notwendige gesellschaftliche Transformation geht“ in die aus deiner Sicht richtigen Bahnen zu lenken. Lieber André, woher weißt du das alles. Was macht dich so sicher, dass es nicht gerade die Aspekte sind, weswegen die meisten Menschen seit Wochen auf die Straße gehen? Ist das nicht etwas überheblich und übergriffig?
    Lieber André, ich würde dir und anderen so gerne in einem echten präsenten Dialog begegnen, am besten noch vor Valentin. Doch das wird durch die staatlichen Maßnahmen, durch die 2G+ Regel praktisch unmöglich gemacht. Das Dialogforum im März muss leider schon wieder ausfallen. In einer echten Begegnung würden wir vielleicht gegenseitig spüren, was wir aneinander haben und was uns verbindet. Und das ist sicher mehr, als das, was uns trennt. Ich arbeite deswegen auch so gern mit dir zusammen. Im Dialog vor Ort, erlebe ich dich stets einfühlsam, frei lassend und an unterschiedlichen Positionen interessiert.
    Ich wünsche uns allen viele offene Dialoge mit Neugier füreinander und gegenseitigem Respekt für das Andere im Anderen und möglichst bald einen gepflegten Dialogspaziergang.
    Lieben Gruß, Johannes

    • André sagte:

      Lieber Johannes,
      danke für deinen Kommentar! Mir liegen radikaler Respekt, Leichtigkeit und Humor auch am Herzen. UND es war mir ein Bedürfnis, mit Blick auf die Spaziergänger:innen mal richtig volle Kanne leidenschaftlich zu plädieren!
      Natürlich weiß ich nicht alles, aber ich wende wirklich viel Zeit auf auf, um mich zu informieren. Auf diese Weise „vorbelastet“, sehe nun mal, wer da noch so rumläuft auf den Demos und Spaziergängen und es springen mir die Euphemismen und Sprachcodes ins Auge, wenn ich auf einschlägige Webseiten und Social Media Kanäle schaue. Tatsächlich war es schon soweit gekommen, dass ich regelmäßig bei Reitschuster, Wordarg, corona-ausschuss.de usw. reinschaute, nur um mental vorbereitet zu sein auf all die Ungeheuerlichkeiten, die mir in Gesprächen immer wieder begegneten. Die beschäftigten mich dann oft tagelang auf ungesunde Weise, weil ich es einfach nicht verstand, wie diese Menschen zu solchen Sichtweisen kommen. Wenn dann es dann gelang mit dem Zuhören, landeten wir tatsächlich mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit immer wieder bei Kindheitserlebnissen.
      Ich glaube, ich habe den Artikel geschrieben, weil ich etwas zu lange und zu oft zugehört habe und meine eigenen Impulse dabei unterdrückt habe. Er ist wohl etwas „over the top“ und reicht gewiss nicht an jene dialogische Qualität heran, die ich mir ja selber wünsche. Dennoch kann ich jedem und jeder, die ich beim Schreiben vor Augen hatte noch offen begegnen und „ein Tänzchen wagen“ – vielleicht sogar etwas unbeschwerter und klarer als vorher!
      Eine Bitte hätte ich im Sinne von Meinungsfreiheit und -vielfalt: Lasst doch als Vorstand wieder zu, dass neue Artikel prinzipiell auf der Startseite erscheinen dürfen, ohne dass sie abgesegnet werden müssen! Damit meine ich jetzt nicht den aktuellen Artikel – von mir aus muss er da nicht wieder hin. Ich habe diese Webseite immer als etwas Lebendiges und Buntes gedacht und auch so angelegt, dass sich das aktuelle Geschehen und die Wege der Mitglieder darin wiederspiegeln – und nicht als ein Textgrab, wo man erst drei Ebenen tiefer auf das richtig heiße Zeugs stößt. Ich wiederhole auch gerne nochmal meine Einladung an alle, Autor:innenzugänge, die ich für jedes Mitglied einrichten kann, zu nutzen. Ich übe mich künftig auch darin, einmal mehr tief durchzuatmen und zu versuchen in den radikalen Respekt zu gehen, wenn mich da was triggern sollte.
      Lieben Gruß
      André

  2. Thomas Ahlers sagte:

    Der Aufsatz „über Spaziergänge“ von André Gödecke, der diverse Ausbildungen im Bereich der Kommunikation hat, stimmt mich sehr nachdenklich.
    Ich frage mich, wieso es diese Spaziergänge überhaupt gibt und weshalb viele Menschen diese kritisch sehen? Wenn ich auf die Metaebene gehe, kann ich mich genau an den Beginn der Coronakrise erinnern. Keiner wusste, was da auf uns zukommt und wie gefährlich dieses Virus ist. Dass das daraus wurde, was wir in den letzten zwei Jahren erlebt haben, hätte ich niemals für möglich gehalten.
    Als im November 2020 unser Grundgesetz geändert werden sollte, damit die „Politik handlungsfähig bleibt“, war für mich ein Punkt erreicht, der mich zum Handeln zwang. Ich habe Bundestagpolitiker jeglicher Couleur angeschrieben mit der Bitte, dieser Änderung nicht zuzustimmen. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden einige Rechte im Grundgesetz verankert, damit so etwas wie damals nie wieder passiert – von Menschen, die diesen Wahnsinn miterlebt hatten und alles dafür tun wollten, damit Menschen solch ein Unrecht nie wieder angetan wird.
    Ich bin mit Freunden nach Berlin gefahren, um dort am nächsten Tag klar zum Ausdruck zu bringen, dass solch eine Änderung für mich völlig inakzeptabel ist. Als ich zurückkam, schlug mir eine Welle des Missverständnisses entgegen. Ich wurde als Rechter beschimpft, als jemand der der AFD eine Plattform bietet, als ein Mensch, der einen Angriff auf unsere Demokratie vornimmt.
    Tage später hat mir einer der Politiker, den ich im Vorfeld angeschrieben hatte, per Post mitgeteilt, dass ein demokratisches Miteinander wegen Personen wie mir gefährdet sei.
    Naja, dachte ich bei mir: Habe ich da bezüglich demokratischen Miteinanders etwas falsch verstanden? Mir wurde beigebracht, dass Meinungsfreiheit eine der größten Säulen der Demokratie ist: Seine Meinung äußern zu dürfen, die Meinung des anderen anzuhören und respektvoll damit umzugehen, bedeutet, die Meinung des Gegenübers zu akzeptieren. Auf sein Recht zu bestehen, bedeutet Macht auszuüben. Akzeptanz dagegen bedeutet Frieden.
    Ich fühlte mich missverstanden und nicht gehört. Politiker, denen ich bei der Wahl mein Vertrauen aussprach, wollten mir nicht zuhören. Und jetzt?
    Was macht ein Kind, wenn ich ihm keine Aufmerksamkeit schenke, ihm nicht zuhöre? Es macht auf sich aufmerksam. Die Menschen, die für die Maßnahmen in unserem Land verantwortlich sind, hörten uns nicht zu. Also machten wir auf uns aufmerksam. Es folgten Demos, oft unter erschwerten Bedingungen, teils dem Virus geschuldet, teils der Exekutiven. Seitens der Politik wurde der Druck auf uns erhöht. Überall wurde von Querdenkern, Coronaleugnern und der Ausbreitung von „Rechts“ berichtet.
    Ich habe diesbezüglich ein sehr interessantes Gespräch mit einer Frau aus der ehemaligen DDR geführt. Sie sagte, dass sie solch ein Vorgehen der Politik aus ihrem alten Land kennen würde. Sobald es einen Verdacht auf Klassenfeind gab, wurde dieser als rechts dargestellt, als Bedrohung des Systems. Sofort gab es einen Grund für Freiheitsentzug und Bestrafung.
    Immer häufiger wurden Demos nicht genehmigt, teils aus nicht nachvollziehbaren Gründen. Ist es da verwunderlich, dass Menschen nach Wegen suchen, auf Ihre Verzweiflung aufmerksam zu machen, ohne dabei die Gesetzte zu verletzen? Ein Kind, das in Not ist, wird mit seinem Verhalten so lange auf sich aufmerksam machen, bis ihm Zuwendung geschenkt und ihm zugehört wird.
    In dieser ganzen Zeit hat mich nie ein Mensch angesprochen und nach meinen Bedürfnissen, oder Intentionen gefragt, warum ich an solchen Veranstaltungen teilnehme, warum ich mich so verhalte. Stattdessen erlebe ich Diskriminierung, Verurteilung und Abwertung.
    Bei allen Veranstaltungen, an denen ich teilgenommen habe, habe ich keinen Menschen erlebt, der rechtes Gedankengut geäußert hat oder sich offensichtlich diesbezüglich zur Schau stellte. Häufig kommt hier das Argument: Die machen es ja auch versteckt und outen sich nicht, und somit unterstützten wir mit der Teilnahme an solch einer Veranstaltung ihre Intention.
    In einem Restaurant habe ich noch nie die anderen Gäste nach ihrer politischen Ausrichtung gefragt. Sie vielleicht? Alle verfolgen das gleiche Bedürfnis: Gut zu essen, etwas zu trinken und einen tollen Abend zu haben. Würde dieses Restaurant offensichtlich von rechten Besitzern betrieben, würde ich dieses Restaurant meiden. Genau, wie bei einer Demo: Würde die Demo von Menschen mit rechter Gesinnung veranstaltet, würde ich diese Veranstaltung meiden. Was machen wir nun mit dieser Misere?
    Reden und zuhören! Den größten Fehler, den wir im Umgang miteinander machen können, ist Ignoranz. Ich wurde gefragt, ob ich einem Menschen mit rechter Gesinnung zuhören würde. Ja, durch die Erfahrungen der letzten zwei Jahre würde ich tun. Ich würde zuhören und mit diesem Menschen kommunizieren. Ich würde wissen wollen, woher seine Vorstellung kommt, warum er so denkt, so handelt. Vielleicht gibt meine Stellungnahmen Impulse, über die dieser Mensch dann nachdenkt. Vielleicht öffnet sich sogar eine neue Dimension für ihn. Das wissen wir erst, wenn wir es versucht haben. Es ist an der Zeit, respektvoll miteinander in Kommunikation zu treten. Akzeptanz statt Ignoranz könnte eine Devise sein.
    Jedenfalls haben diejenigen, die alles richtig finden und nichts von dem in Frage stellen, was die Regierungen uns vorschreiben, die Kollateralschäden der Maßnahmen ignorieren und Andersdenkende ausgrenzen, genauso wenig mit gelebter Demokratie zu tun wie Politiker, die spalten, statt zu verbinden.

    Am 05.02.22 war ich auf der Demo in Düsseldorf mit geschätzt 8.000 – 10.000 Menschen. Lange habe ich solch eine besondere Stimmung nicht erlebt. Mit Menschen unterwegs zu sein, auf Missstände aufmerksam zu machen, vermittelt ein Gemeinschaftsgefühl. Am Straßenrand gab es einige Gegenprotestler mit roten Karten. Immer wieder der Vorwurf, rechts zu sein. Die Antifa war mit wenigen Gegendemonstranten vertreten, die laut brüllten: Nazis raus! Die Antifa ist eine Vereinigung, die den Staat immer kritisch sieht und Maßnahmen eher verweigern würde; doch ihre jetzigen Reaktionen sind von Ängsten geprägt.
    Ein Schwarzer Mensch hatte ein Plakat auf dem Stand: I am not a NAZI, are you blind?
    Eine weitere Demonstrantin hatte ein Plakat mit der Aufschrift: Zu weit nach links gedreht, ist schnell rechts.
    Viele Menschen, die am Straßenrand standen, formten mit ihren Händen Herzen, applaudierten und riefen „Danke“. Am Ende der Kö bis zum Fernsehturm standen Krankenpfleger*innen, und Ärzt*innen in Arbeitskleidung am Straßenrand und applaudierten. Das war für mich eine besondere Geste.

    Am 12.02.22 war ich wieder in Düsseldorf. Diesmal deutlich mehr Menschen; es werden wöchentlich mehr. Auch diesmal eine tolle Stimmung. Nach meinem Eindruck deutlich weniger Gegenproteste als in der vergangenen Woche; deutlich weniger Polizeipräsenz. Menschen halten mit ihren Autos an, hupen und halten den Daumen hoch. Auf der Kö bleiben Menschen an den Geschäften stehen und applaudieren. Ja, es gibt einen Passanten, der stehen bleibt und uns beide Mittefinger zeigt. Ich denke nur: Der Friede sei mit dir – und lasse mich nicht beeindrucken.
    Plötzlich reiht sich eine Gruppe vor uns ein mit der Fahne der Antifa. Die Antifa in unseren Reihen? Ich kann es nicht fassen, und wir sprechen beeindruckt den Träger der Fahne an: Ihr unter uns? Sonst steht ihr am Straßenrand und betitelt uns als rechte Demonstranten.
    Seine Antwort: Schaut euch die Menschen am Straßenrand genau an. Die, die euch als Rechte bezeichnen, das sind die wahren Faschisten, egal welche Fahne sie tragen. Wenn ich nicht mit euch ginge, wo sollte ich dann sein?
    Macht es nun Sinn, darüber nachzudenken, ob diese Menschen rechts sind? Macht es Sinn, zu vergleichen und den Menschen mit Vorwürfen zu begegnen, egal wie sie über die Situation denken?

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