Teilnehmer:innen der ALLE WETTER Ausbildung in Erkelenz 2023

Lasst uns Herzen malen in die Staubschicht auf unserem Bildungssystem! (Saskia Niechzial)

Am vergangenen Freitag endete die Ausbildung zur ALLE WETTER Prozessbegleiter:in in Erkelenz (Rheinland). Wunderbare Menschen aus Schule und Jugendhilfe arbeiteten im Rahmen des zehntägigen Zertifikatskurses an ihren dialogischen Fähigkeiten und vertieften Kompetenzen zum Umgang mit starken Emotionen, Konflikten, Mobbing usw.

Sie erlangten Sicherheit in der Umsetzung des ALLE-WETTER-Ansatzes mit Schulklassen, Wohngruppen und Teams. Ermutigten sich gegenseitig, in herausfordernden Situationen eine erkundende und empathische Haltung einzunehmen.

Die Rückmeldungen machen mich froh und zuversichtlich, weil sie einmal mehr den Willen bekunden, auch unter den Bedingungen angestaubter Strukturen persönliche Begegnung und Herzensmut zu wagen.

Wir warten nicht darauf, dass auf Ministeriumsebene irgendwann mal der dringend notwendige Wandel auf den Weg gebracht wird – wir fangen schon mal an und machen (nicht nur) Schulen zu einem freundlichen Ort!

https://www.allewetter.org/

#dialogischehaltung #gewaltfreiekommunikation
#lernlustjetzt #allewetterkreisgespräche #schuleimaufbruch #saskianiechzial 

„Was immer du zu sagen hast, lass Wurzeln dran, lass sie hängen mitsamt der Erde, um klar zu machen, woher sie kommen.“
(Charles Olson)

Ich gebe zu, ich leide! Ich leide daran, dass immer mehr mir nahestehende Menschen bei gewissen Spaziergängen mitlaufen – dass sie spazieren gehen auf Veranstaltungen, die meiner Meinung nach alles andere als harmlose Spaziergänge sind. Hier in meiner Stadt werden sie von Gruppierungen wie der „Bewegung Halle“ beworben und bevölkert. Gehe ich auf die Webseite der „Bewegung“, springen mir erstmal Begriffe wie Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung ins Auge. „Es ist Zeit zu reden!“, heißt es dort. Okay, warum nicht? Find´ ich alles gut!

Gehe ich die in die Rubrik „News“, stoße ich auf einen Artikel von einem gewissen Milosz Matuschek zum „Great Reset“, in dem Corona als „Durchlauferhitzer einer Machtergreifung“, als Vorbereitung für eine von China ausgehende Fremdherrschaft, welche in Form eines „hybriden Moulüe-Angriff(s) sinomarxistischer Prägung“ daherkommt.* Oha, man lernt nie aus! Klicke ich auf den Button „Neue Medien Portal“, lande ich schnell bei rubikon.news, einem mir schon bekannten Tummelplatz für Deep-state-Verschwörungstheoretiker, Putin-Fans und selbsternannte Kämpferinnen gegen die Gesundheitsdiktatur.

Während ich hie und da so hineinlese, beschleicht mich fröstelnd der Gedanke, dass ich, anstatt umständliche Artikel zu schreiben, lieber keine Zeit verlieren und losziehen sollte, um mich mit Medikamenten und Lebensmittelkonserven einzudecken. Auch einen Volkshochschulkurs „Chinesisch für Untertanen“ könnte ich zur Sicherheit schnell noch buchen.

Dabei gehören die mir bekannten spazieren gehenden Menschen wirklich nicht zu jenen krakeelenden Brauseköpfen, wie sie in Corona-Demo-Reportagen von den Medien so gerne vorgeführt werden. Es scheint mir, als ob sie mit sich und der Welt über Kreuz liegen. Es scheint mir, dass sie getriggert sind von den Maßnahmen und ihren Folgen für den Alltag. Es scheint mir, dass sie umgetrieben sind von der Frage, wem man überhaupt noch vertrauen kann.

Manchmal, in tieferen Gesprächen, zeigt sich, dass das alles immer wieder auch alte Wunden berührt: Autoritäten aus der Zeit der Kindheit, die über Jahre hinweg manipuliert, unterdrückt und Gewalt ausgeübt haben – es ist, als ob sie geisterhaft und incognito auferstehen in den Entscheidungen von Politikern – und ich glaube, es ist dieses incognito, welches die Verständigung zwischen uns manchmal so schwierig macht.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Auch ich finde manche politische Entscheidung der letzten zwei Jahre mindestens fragwürdig oder wenig durchdacht. So vieles wurde verdöst, versemmelt, verbockt – sei es aus Inkompetenz, fehlender Agilität oder parteipolitischem Kalkül. So viele Menschen und Gruppen wurden nicht gesehen, gehört und unterstützt in ihrer Not. Ich selber habe auch meine Zweifel, ob die aktuelle Strategie „Belohnung und Strafe“ irgendetwas Nennenswertes bewirken soll. Erzieherische Maßnahmen mögen im Straßenverkehr funktionieren und dafür sorgen, dass sich Raserei und wildes Parken in Grenzen halten. Aber für die Bewältigung dieser Pandemie in ihrer Komplexität, und dafür, dass denkende Menschen sich in die richtige Richtung in Bewegung setzen, bräuchte es wohl dringend noch etwas mehr! (Wie wäre es z.B. mit attraktiven und handfesten gesellschaftlichen Visionen für die „Zeit danach“?)

Es ist also mitnichten alles schick. Aber das permanente Streuen derart fundamentaler Zweifel an Demokratie und Zivilgesellschaft, wie es mir bei Milosz Durchlauferhitzer und manch ulkigem Herzliebchen unter den Spaziergängerinnen und Spaziergängern begegnet, scheint mir eher auf Destabilisierungsbemühungen von ganz rechts außen zurückzugehen: Die braune Saat gedeiht am besten auf dem Humus existenzieller Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung.

Aber wie gesagt, unabhängig davon scheint mir manch starke Reaktion auf Corona-Politik ihre emotionale Ladung nicht nur aus dem tatsächlichen Anlass, sondern auch aus den Schatten und Nöten früherer Tage zu beziehen. Ich kann das – wenn es denn zur Sprache kommt – immer wieder nachfühlen und es berührt mich jedes Mal. Ich kenne es von mir selbst. Gleichzeitig spüre ich meine Unlust und mein Bedürfnis nach Schutz vor allzu krassen Erzählungen und den daraus resultierenden Diskussionen. Ich möchte nicht Mal um Mal zum Empfänger von Emotionen werden, die mit den gegenwärtigen politischen Ereignissen als solchen meines Erachtens oft herzlich wenig zu tun haben. Im Grunde wird hier Inneres mithilfe dramatischer Zuschreibungen auf Ereignisse und Personen im Außen projiziert – gerne auch mal auf Personen wie mich:

Hallo hier bin ich – dein persönlicher Karl-Lauterbach-Dummy oder wahlweise auch der Widergänger des doofen Sportlehrers deiner Grundschulzeit – und du kannst alles, wirklich alles an mir auslassen, sobald ich versuche, deinen Diktaturthesen zu widersprechen!

Das heißt nicht, dass ich nun gar nicht mehr Anteil nehmen möchte an dem, was meine lieben Mitmenschen bewegt! Aber Auseinandersetzungen, deren eigentliche Wurzeln im Verborgenen bleiben, geraten halt oft zu überspannten Scheindebatten, in denen keine wirkliche Verbindung, kein wirklicher Raum zwischen den Beteiligten entsteht.

Ich bin mir des dünnen Eises bewusst, wenn es darum geht, die Betreffenden darauf anzusprechen und möchte den Respekt vor persönlichen Grenzen wahren. Aber manchmal will ich sie einfach nur liebevoll anstupsen, kneifen oder kitzeln und Worte wie diese an sie richten:

Du musst nicht eins werden mit den steuerbordseitig hereinflutenden Wogen des Misstrauens!  Du musst nicht den „Great Reset“ befürchten, wenn die Gesellschaft das tut, was Gesellschaften schon immer getan haben beim Hereinbrechen tödlicher Gefahren: Maßnahmen ergreifen – heutzutage gerne auch auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse!

Du musst nicht von Panikmache, Gehirnwäsche oder gar „Gleichschaltung“ reden, wenn die Mehrzahl der Menschen sich dafür entscheidet, eben jene Maßnahmen in ihrem Alltag mitzutragen – mehr oder weniger zumindest, wie es Menschen nun mal eigen ist.

Du musst nicht dem Stamme jener abhandenkommen, die grundlegendes Vertrauen ins Leben haben, und die es begrüßen, wenn der von dunklen Mächten sinomarxistischer Prägung systematisch vorbereitete Bürgerkrieg ruhig noch etwas warten darf – wenigstens bis nach Valentin.

André Gödecke – andregoedecke.de


*www.bewegunghalle.de/news/politik/der-great-reset-ist-ein-technokratischer-putsch

Bild: Carl Spitzweg – „Sonntagsspaziergang“; Quelle: Wikipedia

Obwohl Leipzig nur einen Steinwurf weit von meiner Heimatstadt entfernt liegt, habe ich doch jetzt erst mitbekommen, dass es da im Dezember eine bemerkenswerte Aktion unter dem Titel „The Citizen is Present“ gab: Durch gegenseitiges sich anschauen und sehen ins Hier und Jetzt kommen und damit ein bewusster, präsenter Teil des öffentlichen Raumes werden.

Das Format ist angelehnt an das Kunstprojekt The Artist is Present der Künstlerin Marina Abramovic aus dem Jahr 2010.

Habe Freude daran, wenn auf solch kreative Weise Gegenwärtigkeit, Begegnung und spontane Verbundenheit im öffentlichen Raum öfter mal zu ihrem Recht kommen!

André Gödecke

Im Rahmen meiner Tätigkeit als Prozessbegleiter war ich von 2018 bis 2019 für eine dialogische Gesprächsreihe mit Grundschullehrer*innen und Horterzieher*innen in meiner Heimatstadt Halle (Saale) engagiert. Sie alle waren irgendwie unzufrieden mit dem oftmals von Frust und Vorurteilen geprägten Verhältnis zwischen beiden Professionen – und den daraus resultierenden Reibungsverlusten in der Zusammenarbeit (bzw. Nicht-Zusammenarbeit). Sie wollten mehr voneinander hören und gemeinsam darüber nachdenken, wie Austausch und Kooperation künftig besser gelingen können.
Zu Beginn der Gesprächsreihe lud ich die Beteiligten dazu ein, in zwei Gruppen mithilfe verschiedener Materialien jeweils eine Insel zu erschaffen: eine Insel namens „Hort“ – gestaltet von den Erzieher*innen, sowie eine Insel namens „Schule“ – gestaltet von den Lehrer*innen. Besonderes Augenmerk lag dabei auf dem Schatz – denn schließlich ist so eine Insel viel interessanter, wenn dort irgendwo ein vergrabener Schatz schlummert.
Eine Phase emsigen Werkelns begann und ich wartete gespannt auf die Vorstellung der Ergebnisse:
Die Hort-Insel präsentierte sich bunt und vielfältig – Spiel und soziales Lernen hatten auf ihr ebenso einen festen Platz wie Kreativität und ein sehr weit gefasster Bildungsbegriff. Leider wurde die Idylle etwas getrübt durch allerlei schwierige institutionelle Rahmenbedingungen.
Die Schulinsel dagegen kam als ein auffallend schroffer Ort daher – geprägt von Personalmangel, Dauerbelastung und jeder Menge MÜSSEN. Eine dunkle Symbolfigur namens „Kultusminister“ thronte über all dem und bürdete den eh schon gestressten Pädagog*innen immer neue zusätzliche Aufgaben bürokratischer Natur auf.
Etwas beklommen fragte ich nach dem Verbleib des Schatzes – und erntete erstmal nachdenkliches Schweigen. Plötzlich jedoch huschte ein Lächeln über das Gesicht einer Schulleiterin:

„Der Schatz, das sind diese vertrauensvollen Gespräche zwischen Kindern und Lehrern, welche in der Regel außerhalb des Unterrichts stattfinden! Hier geht es um persönliche Themen, hier spielen Gefühle eine Rolle. Dabei agieren wir weniger aus unserer Lehrerrolle heraus, sondern begegnen uns eher von Mensch zu Mensch.“ „Hier“ – so die Frau wörtlich – „hat an der Schule die Menschlichkeit ihren Ort!“

Das Konzept „ALLE WETTER – Kreisgespräche mit Gruppen“ hat zum Ziel, jene Qualität, von der die Schulleiterin sprach, bewusst zu verwirklichen – und zwar im regulären Schulgeschehen bzw. „Unterrichtsbetrieb“, und nicht nur bei informellen, sich mehr oder weniger zufällig ergebenden Gelegenheiten. Schließlich verbringen – wenn nicht gerade mal wieder Lockdown ist – sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Pädagog*innen einen großen Teil ihrer Lebenszeit in diesem Kasten namens Schule. Da sind die Qualität der Beziehungen, das Schulklima und das Miteinander in der Klasse von entscheidender Bedeutung fürs Wohlergehen und die persönliche Entwicklung.
Ich hoffe, dass nach Corona in unseren Schulen nicht nur das Aufholen versäumten Lernstoffes im Mittelpunkt steht, sondern einmal mehr auch Zeit für Gespräche, Zuhören und für die Aufarbeitung der zurückliegenden Monate eingeräumt wird! Ich hoffe, dass Pädagog*innen wenigstens erstmal innehalten und durchatmen, wenn von Ihnen verlangt wird, die im Lockdown erfolgte Beeinträchtigung kindlicher Lebensqualität durch Erhöhung des Lernpensums und Ausübung von Druck fortzusetzen.

ALLE WETTER vermittelt eine strukturierte Vorgehensweise, aber vor allem auch eine Haltung, die den Austausch persönlichen Erlebens, das achtsame Zuhören und vor allem das In-der-Schwebe-halten von Urteilen und Ratschlägen ermöglicht. Ebenso spielt das empathische Eingehen auf starke Emotionen, Vorwürfe usw. eine Rolle. Grundlagen bilden die dialogische Haltung (David Bohm, Martin Buber), die Gewaltfreie Kommunikation (Marshall Rosenberg) sowie indigene Traditionen der Verständigung im Kreis (Council).
Der Gesprächsansatz stärkt nach den bisher vorliegenden Erfahrungen auch jene Pädagog*innen und Führungskräfte, denen ein gleichwürdiges und wertschätzendes Miteinander am Herzen liegt. Sie bekommen ein Werkzeug an die Hand, mit dessen Hilfe sie in ihrem Wirkungsbereich erfolgreich einen echten Unterschied im Miteinander und im Umgang mit Konflikten bewirken können – das stärkt ihre Position, auch in einem oft eher traditionell-hierarchisch geprägten Umfeld.
Weitere Informationen zu ALLE WETTER findet ihr auf https://allewetter.org/


Nach wie vor finden in Halle regelmäßig Dialoge unter freiem Himmel statt – völlig Corona-konform als Gespräche im Format des dialogischen Spaziergangs!

Beim letzten Mal am 12. Januar war Radio Corax dabei und führte Interviews mit zwei beteiligten Menschen. Hier findest du den knapp 10minütigen Beitrag:


Am 2. Februar geht es weiter – guckst du hier:

https://dialogunterfreiemhimmel.wordpress.com/

Die Frau aus der Nachbarschaft geht gekrümmt und alltagsmaskiert an mir vorüber, in der rechten Hand eine Packung Toilettenpapier, in der linken eine prall gefüllte HUNDE-NETTO-Tüte. Mein stiller Gruß bleibt unerwidert – vielleicht hat sie ihn durch die vom Nieselregen beschlagene Brille einfach nicht wahrgenommen. Oder es ist jetzt so weit: Die Welt geht unter und auch ich sollte mich mit Classic XXL Klopapier, Fleischkonserven und billigem Rotwein eindecken! Was ist, wenn das niemals aufhört mit dem „Social distancing“?  Was ist, wenn der orangene Typ am Ende vier weitere Jahre im Weißen Haus verbleibt und – Überraschung! – der Söder im nächsten Jahr Kanzler wird?

Beim ersten Lockdown schien trotz aller Verunsicherung alles noch irgendwie easy: Der Frühling und die ausgefallenen Termine verführten zu ausgiebigen Spaziergängen, sogar ein Hauch von Abenteuer lag angesichts einer „Naturkatastrophe light“ in der Luft – zumindest hierzulande. Jetzt stehen dunkle, nasskalte Wochen bevor, eine Seminarabsage folgt der nächsten und es fängt an wehzutun. „Wir holen das, sobald es geht, nach!“  Ja, wann denn, bitteschön? Soll ich, weil dann ja so viel nachzuholen sein wird, etwa wochenlang 24/7 durcharbeiten? Beherbergungsverbot trifft Ponyhof.

Dann wäre da noch die Sache mit dem Ego: Natürlich ist das etwas angefressen, wenn es glauben soll, dass so profane Dinge wie Abstand halten oder der Verzicht auf reihenweise Umarmungen dazu beitragen sollen, am Ende eine bestimmte Anzahl von Leben zu retten. Was ist das schon gegen den Mut, sagen wir mal, eines Oskar Schindler? Würde Martin Luther King, wenn er noch lebte, die „AHA-Regeln“ einhalten? Was für eine alberne Frage, kleines Ego – ich bin sicher du kennst die Antwort!

Denke ich an mutige Menschen wie Malala Yousafzai, Edward Snowden oder an Recep Gültekin und Mikail Özen – also an Zeitgenoss*innen, die sich trotz Bedrohung und widrigster Umstände nicht den Schneid abkaufen lassen, wird mir eines immer klarer: Ich kann auch an furchbar düsteren November-Shutdown-Tagen morgens aufstehen und selber entscheiden, wie ich in den Tag gehe und worauf ich meine Aufmerksamkeit richte – denn bekanntlich folgt das Handeln der Aufmerksamkeit. Ich kann heute beeinflussen, welche Geschichte ich mir in ein paar Jahren über meinen Weg in Zeiten von Corona erzählen werde, und ich lasse mir von niemandem ausreden, einmal mehr auf die Chancen zu sehen und darauf zu vetrauen, dass das Leben im Grunde gut ist und nach Vervollkommnung strebt – daran ändern auch der orangene Typ, der Söder und der HUNDE-NETTO nichts.

Welche Geschichte möchtest DU dir in ein paar Jahren über diese Zeit erzählen? Was beschäftigt gerade deine Aufmerksamkeit? Was lässt dich innerlich und äußerlich stark sein – gegen Viren und andere Zumutungen? Gerne die Kommentarfunktion nutzen!

www.andregoedecke.de

Foto: © Erwin Wodicka   – fotolia.com/Adobe Stock

 

 

 

 

Ich gehöre (zumindest im Moment noch) nicht zu den alarmierten Mitmenschen, welche die Freiheit in Gefahr sehen. Innerlich frei kann mich dafür entscheiden, Einschränkungen mitzutragen, welche ich für notwendig halte.

Dennoch ist mein armes Ego natürlich auch etwas angekratzt:

Die Virolog*innen haben die Macht über- und mir mein Lieblingsspielzeug weggenommen: Die direkte Kommunikation zu zweit oder im Kreis. Menno.
Martin Buber sprach vom „Atemraum des echten Gesprächs“. Aber unser Atem gilt gerade als das Übertragungsmedium für jene winzigen Wesen, die im Hintergrund von Nachrichten oder Talkrunden gerne als riesige, mit Nelken gespickte Knetkugeln dargestellt werden. (Schonmal aufgefallen?)

Der Atemraum wird gerade mithilfe von Schutzmasken, Abstandsregeln und Kontaktverboten dazu gebracht mal Pause zu machen – und weil Drähte, Glasfasern und Funkwellen keine Viren übertragen, müssen viele unserer Gespräche jetzt in der digitalen Sphäre Asyl finden. Und so mache ich die schräge Erfahrung, mir selbst beim Sprechen zuzuschauen, amüsiere mich über mein Gegenüber, dessen Bild ausgerechnet während eines lustigen Gesichtsausdrucks eingefroren ist, oder experimentiere mit Licht, damit die Glatze nicht so grässlich schimmert. Ich lerne, auf „Hmm“ zu verzichten, weil die Verbindung manchmal so schlecht ist, dass der Ton der anderen Seite für ein paar Sekunden pausiert, sobald ich „Hmm“ sage.
Als Kind hatte ich ein Spielzeug-Morsegerät und kannte damals tatsächlich einen Teil des Morse-Alphabetes. Vielleicht sollte ich an diese verschütteten Fähigkeiten anknüpfen, damit ich mich in der Zoom-Konferenz wenigstens halbwegs verständlich machen kann. Toll. Over and out, Major Tom!

Ich erinnere mich an das Buch „Die Rättin“ von Günther Grass, das ich in den 80er Jahren las. Abwertend schrieb er darin von „Chips und Clips“, welche (sinngemäß) überflüssig wie ein Kropf seien und die Welt um keinen Deut besser machten.

Dennoch, finde ich, lohnt es sich, dieses Tänzchen zu wagen! Zwar sorgen und Chips und Clips und Bits und Bytes mitunter für blechernen Grundton und ruckelige Verständigung, aber dies muss der Tiefe und Vertrautheit der Gespräche keinen Abbruch tun. Mir fällt sogar auf, dass ich seit dem Shutdown viel mehr Gespräche, Chats, Mailaustausche habe, die von Herzlichkeit, Nähe und Tiefe geprägt sind. Vielleicht liegt das auch daran, dass die übliche Betriebsamkeit gerade etwas außer Kraft gesetzt ist – und damit wohl auch jene plappernde Vielstimmigkeit, der unsere Ohren in der analogen Welt zu normalen Zeiten ausgesetzt sind.

Es ist, wie wenn sich der Abend über die Landschaft legt und das Brausen und der allgemeine Lärm nachlassen: Plötzlich nehme ich jene Geräusche und Stimmen, die jetzt da sind, viel klarer und intensiver wahr – und merke, dass meine eigene Stimme, die Worte, die ich wähle, viel deutlicher und prägnanter in ihrer Wirkung sind.

Viele vermeintliche Gewissheiten, Pläne und Routinen zerbröseln gerade oder liegen auf Eis. Der Autopilot verabschiedet sich und ich fliege auf Sicht. Bin wohl gut beraten, jenen Stimmen zu misstrauen, die vorgeben den Flugplan zu kennen und lerne wieder selbst genau hinzuschauen, hinzulauschen, hinzuspüren, meine eigenen Erfahrungen zu machen.

Was gibt es in einer solchen Phase Schöneres als echtes und rückhaltloses Gespräch? Was gibt es Hilfreicheres als gemeinsames Erkunden, ohne schon vorher die Lösung zu wissen? Und spielt es eine Rolle, ob das nun per Telefon, Email, Briefwechsel, Skype oder von Vorgarten zu Küchenfenster geschieht?

Vielleicht hat das Wort, das wir an den Anderen, an die Andere richten – und wenn es nur das sprichwörtliche „Lebenszeichen“ ist – heute einen größeren Wert und eine größere Wirkung als zu normalen Zeiten. Deswegen lohnt es sich aus meiner Sicht, einmal mehr aus der Deckung zu kommen und dazu auch Chips & Clips zu bemühen. Die Umarmungen müssen noch etwas warten – aber ich kann ja schon mal beginnen eine Liste zu führen mit später zu umarmenden Menschen 😉

Zum Abschluss möchte ich hier noch einen Text anfügen, der mir kürzlich unter der Überschrift „Meditation“ auf einem Magdeburger Veranstaltungsflyer begegnet ist.

… wussten sie schon
dass die stimme eines menschen
einen anderen menschen wieder aufhorchen lässt
der für alles taub war

wussten sie schon
dass das Wort oder das tun eines menschen
wieder sehend machen kann einen der für alles blind war
der nichts mehr sah in dieser welt und in seinem leben

wussten sie schon
dass das zeithaben für einen menschen mehr ist als geld
mehr als medikamente
unter umständen mehr als eine geniale Operation

wussten sie schon
dass das anhören eines menschen wunder wirkt
dass das wohlwollen zinsen trägt
dass ein vorschuss an vertrauen hunderfach auf uns zurückkommt …

Wilhelm Wilms


Bild: Beate Gödecke – „Corona-Frau mit Mundschutz“ (Acryl, Öl, Materialcollage) | www.beategoedecke.de
 

 

 

 

 

 

 

 

Seit Anfang der 2000er Jahre praktiziere ich Streitschlichtung mit Schulklassen und biete Fortbildungen für Lehrer*innen und Erzieher*innen zu diesem Thema an. Als besonders wertvoll erwies sich dabei die Gewaltfreie Kommunikation nach M. Rosenberg. Später begegnete mir die dialogische Haltung und mit ihr die Möglichkeit, behutsam und kraftvoll zugleich Raum zu schaffen – Raum für ehrliche Äußerungen, neue Gedanken und für Gefühle, deren Ausdruck Bewegung in erstarrte Situationen bringen kann.

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Natürlich gibt es gute Gründe, helfende Gespräche innerhalb von vier Wänden stattfinden zu lassen – der Raum wohltemperiert und die Tür versehen mit einen Schild: „Bitte nicht stören“. Dennoch frage ich mich, warum wir die Natur, die Weite und die Bewegung heraushalten wollen aus Prozessen, in denen es – nun ja – darum geht, unserer Natur näher zu kommen, den Blick zu weiten und  Bewegung in etwas hineinzubringen.

In vielen Seminaren habe ich bei dialogischen Spaziergängen und Empathiegesprächen in Park, Wald und Feld berührende Erfahrungen gemacht: Die Gedanken fließen freier, wenn wir nebeneinander hergehen; Blockaden werden greifbarer, überwindbarer, wenn wir körperlich innehalten und erst dann weitergehen, wenn es auch einen Impuls dazu gibt. Manchmal kommt es zu überraschenden Gleichklängen zwischen innen und außen, resultierend aus dem Zusammentreffen von dem eigenen Prozess und dem Leben, welches uns auf dem Weg begegnet.
Warum soll ich diese Qualität meinen Beratungs- und Coaching-KlientInnen vorenthalten? Dass wir nur dann auf tolle Lösungen kommen, wenn wir lange genug auf einem Stuhl sitzen und tief in uns suchen, ist doch wohl eine recht antiquierte Vorstellung! Vielleicht schwingt die Lösung ja auch im Schrei der Wildgänse mit, die in Formation über uns hinwegziehen. Oder sie kullert uns genau vor die Füße, dunkelrot glänzend, nachdem eine stachelige Kastanienkugel plötzlich neben uns auf den Asphalt aufschlug.

Zwei Formate, von „Beratung auf dem Weg“, die ich praktiziere:

Empathywalk:
Konflikte auf einem einfühlsamen Spaziergang erkunden, sich selbst und die eigenen Reaktionen besser verstehen – aber auch das Verhalten der anderen, nicht anwesenden Person. Neue Blickwinkel einnehmen und Ideen für den nächsten Schritt aufkommen lassen. Empathywalk ist Laufen und Verweilen, Sprechen und Schweigen, Gefühle durchleben und Klarheit über die eigenen Bedürfnisse erlangen, Ideen generieren und Leere zulassen…
Du bringst einen Konflikt ein, den du transformieren möchtest. Den strukturierenden Ablauf dieser Dialoge im Gehen bilden die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation nach M. Rosenberg – verlegt in die Landschaft.

Morgenluft-Coaching:
Es muss nicht „in aller Herrgottsfrühe“ stattfinden, aber prinzipiell schon am Morgen, bevor dein Hamsterrad Fahrt aufnimmt und dein Geist und dein Fühlen noch auf Empfang ausgerichtet sind.
In einem Vorgespräch teilst du mir dein Thema mit. In Vorbereitung auf das Coaching formuliere ich zu diesem Thema Fragen, in denen „Musik“ liegt. Nacheinander stelle ich dir dann während des dialogischen Spazierganges diese Fragen. Du bist eingeladen, ihnen nachzugehen, nachzuspüren, bist  eingeladen zu schweigen, zu sprechen und beim Sprechen auf ganz neue Gedanken zu kommen. In der Schlussphase unterstütze ich dich dabei, Antworten auf die Frage „Was heißt das jetzt konkret?“ zu finden und die nächsten Handlungsschritte festzulegen.

 

Bild: jplenio – pixabay.com

Normalerweise treffen wir, die MitstreiterInnen vom „Dialog unter freiem Himmel“, uns in der warmen Jahreszeit im Park. Angesteckt und ermutigt durch allerlei Inspirationen im Rahmen einer Veranstaltungsreihe namens TROTZDEM-Festival verlegten wir jedoch den letzten Dialog auf den Halleschen Marktplatz – direkt vor das Rathaus. Weiterlesen