Chips und Clips oder Dialog in Zeiten von Corona (André Gödecke)

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Ich gehöre (zumindest im Moment noch) nicht zu den alarmierten Mitmenschen, welche die Freiheit in Gefahr sehen. Innerlich frei kann mich dafür entscheiden, Einschränkungen mitzutragen, welche ich für notwendig halte.

Dennoch ist mein armes Ego natürlich auch etwas angekratzt:

Die Virolog*innen haben die Macht über- und mir mein Lieblingsspielzeug weggenommen: Die direkte Kommunikation zu zweit oder im Kreis. Menno.
Martin Buber sprach vom „Atemraum des echten Gesprächs“. Aber unser Atem gilt gerade als das Übertragungsmedium für jene winzigen Wesen, die im Hintergrund von Nachrichten oder Talkrunden gerne als riesige, mit Nelken gespickte Knetkugeln dargestellt werden. (Schonmal aufgefallen?)

Der Atemraum wird gerade mithilfe von Schutzmasken, Abstandsregeln und Kontaktverboten dazu gebracht mal Pause zu machen – und weil Drähte, Glasfasern und Funkwellen keine Viren übertragen, müssen viele unserer Gespräche jetzt in der digitalen Sphäre Asyl finden. Und so mache ich die schräge Erfahrung, mir selbst beim Sprechen zuzuschauen, amüsiere mich über mein Gegenüber, dessen Bild ausgerechnet während eines lustigen Gesichtsausdrucks eingefroren ist, oder experimentiere mit Licht, damit die Glatze nicht so grässlich schimmert. Ich lerne, auf „Hmm“ zu verzichten, weil die Verbindung manchmal so schlecht ist, dass der Ton der anderen Seite für ein paar Sekunden pausiert, sobald ich „Hmm“ sage.
Als Kind hatte ich ein Spielzeug-Morsegerät und kannte damals tatsächlich einen Teil des Morse-Alphabetes. Vielleicht sollte ich an diese verschütteten Fähigkeiten anknüpfen, damit ich mich in der Zoom-Konferenz wenigstens halbwegs verständlich machen kann. Toll. Over and out, Major Tom!

Ich erinnere mich an das Buch „Die Rättin“ von Günther Grass, das ich in den 80er Jahren las. Abwertend schrieb er darin von „Chips und Clips“, welche (sinngemäß) überflüssig wie ein Kropf seien und die Welt um keinen Deut besser machten.

Dennoch, finde ich, lohnt es sich, dieses Tänzchen zu wagen! Zwar sorgen und Chips und Clips und Bits und Bytes mitunter für blechernen Grundton und ruckelige Verständigung, aber dies muss der Tiefe und Vertrautheit der Gespräche keinen Abbruch tun. Mir fällt sogar auf, dass ich seit dem Shutdown viel mehr Gespräche, Chats, Mailaustausche habe, die von Herzlichkeit, Nähe und Tiefe geprägt sind. Vielleicht liegt das auch daran, dass die übliche Betriebsamkeit gerade etwas außer Kraft gesetzt ist – und damit wohl auch jene plappernde Vielstimmigkeit, der unsere Ohren in der analogen Welt zu normalen Zeiten ausgesetzt sind.

Es ist, wie wenn sich der Abend über die Landschaft legt und das Brausen und der allgemeine Lärm nachlassen: Plötzlich nehme ich jene Geräusche und Stimmen, die jetzt da sind, viel klarer und intensiver wahr – und merke, dass meine eigene Stimme, die Worte, die ich wähle, viel deutlicher und prägnanter in ihrer Wirkung sind.

Viele vermeintliche Gewissheiten, Pläne und Routinen zerbröseln gerade oder liegen auf Eis. Der Autopilot verabschiedet sich und ich fliege auf Sicht. Bin wohl gut beraten, jenen Stimmen zu misstrauen, die vorgeben den Flugplan zu kennen und lerne wieder selbst genau hinzuschauen, hinzulauschen, hinzuspüren, meine eigenen Erfahrungen zu machen.

Was gibt es in einer solchen Phase Schöneres als echtes und rückhaltloses Gespräch? Was gibt es Hilfreicheres als gemeinsames Erkunden, ohne schon vorher die Lösung zu wissen? Und spielt es eine Rolle, ob das nun per Telefon, Email, Briefwechsel, Skype oder von Vorgarten zu Küchenfenster geschieht?

Vielleicht hat das Wort, das wir an den Anderen, an die Andere richten – und wenn es nur das sprichwörtliche „Lebenszeichen“ ist – heute einen größeren Wert und eine größere Wirkung als zu normalen Zeiten. Deswegen lohnt es sich aus meiner Sicht, einmal mehr aus der Deckung zu kommen und dazu auch Chips & Clips zu bemühen. Die Umarmungen müssen noch etwas warten – aber ich kann ja schon mal beginnen eine Liste zu führen mit später zu umarmenden Menschen 😉

Zum Abschluss möchte ich hier noch einen Text anfügen, der mir kürzlich unter der Überschrift „Meditation“ auf einem Magdeburger Veranstaltungsflyer begegnet ist.

… wussten sie schon
dass die stimme eines menschen
einen anderen menschen wieder aufhorchen lässt
der für alles taub war

wussten sie schon
dass das Wort oder das tun eines menschen
wieder sehend machen kann einen der für alles blind war
der nichts mehr sah in dieser welt und in seinem leben

wussten sie schon
dass das zeithaben für einen menschen mehr ist als geld
mehr als medikamente
unter umständen mehr als eine geniale Operation

wussten sie schon
dass das anhören eines menschen wunder wirkt
dass das wohlwollen zinsen trägt
dass ein vorschuss an vertrauen hunderfach auf uns zurückkommt …

Wilhelm Wilms


Bild: Beate Gödecke – „Corona-Frau mit Mundschutz“ (Acryl, Öl, Materialcollage) | www.beategoedecke.de