Über Sprachlosigkeit (André Gödecke)
„…meine Stille war wie eines Steines, über den der Bach sein Murmeln zieht.“
Wie gebannt starre ich auf diese Zeile in Rilkes Gedicht, und seufze unkontrolliert auf, so dass ein Mitreisender vom anderen Ende des Abteils irritiert zu mir herüber schaut. All die Familienfeiern, Kaffeetafeln, Dienstberatungen, Teamdebatten, Partys, in denen ich gelähmt und schweigend endlose Wortfluten über mich ergehen ließ – sie kommen mir jetzt in den Sinn und dazu der Schmerz über soviel Aushalten und vergeudete Lebenszeit …
Traurig muss ich lächeln, wenn ich daran denke, was dadurch alles ungesagt blieb und welches Bild meine Zeitgenossen von mir haben mussten bzw. teilweise noch heute von mir haben.
Etwas aus fernen Tagen begleitet meine Reise, um mir immer wieder einzuflüstern, dass es ungebührlich und sogar gefährlich ist, meine oft unfertigen Wortsetzungen einzubringen – etwas, das die längste Zeit unerkannt und als blinder Passagier mit von der Partie war.
Aber sei´s drum: Neue, sonnige Passagiere haben neben dem ollen Dunkelmann Platz genommen und mischen den Wagon gerne mal fröhlich auf. Manch einer nickt mir aufmunternd zu, wenn ich kurz davor bin, „Moment mal!“ zu sagen oder mir eine Frage auf der Zunge liegt, die das Zeug hat, festgefahrenen Konversationen einen neuen Drive zu geben.
Keine Begegnung zwischen mir und anderen Menschen sollte lediglich über die Bühne gebracht, absolviert oder ertragen werden. In jeder dieser Begegnungen liegt mehr oder weniger still verborgen ein Keim für etwas Überraschendes, Verbindendes – auch wenn die Versuchung, meine Rolle „korrekt“ auszufüllen oder der echten Begegnung auszuweichen so oft gewinnt und dem Wunder immer wieder die Tür vor der Nase zuschlägt.
Mit dieser Erkenntnis schwinden auch die Gründe, in langweiligen Gesprächen still vor mich hin zu leiden. Es fällt mir heute zunehmend leichter zu intervenieren, wenn Gespräche „nach Drehbuch“ verlaufen oder ihr Potenzial von Monologen zersetzt wird.
Oh ja das kenne ich, die Vielredner energetisieren durch ihr reden selbst und nutzen dazu einen der Stiller ist, so erlebe ich es, ich unterbreche dann und lasse mich nicht mehr zuschwadern, dazu fällt mir auch ein Gedicht von Rilke ein, ja und das Lauschen und das Zuhören sind keine Qualitäten in unserer Kultur, sie können durch den Dialog wieder entdeckt werden,
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott.
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um. Rilke
hier findest du was über die sogen. Logorrhoe und sogen. Logopathen, es ist aber falsch, dies als Krankheit zu definieren, finde ich, aber sind schon Phänomene, die viele an sich haben und es nicht gar wahrnehmen….
https://traurigschoenewelt.wordpress.com/2012/10/04/logorrhoe-und-logopathen/
Ja, er erklärt das Vielreden plakativ zur Krankheit – aber ich fühle mit ihm beim Lesen und bekomme eine Ahnung, was er schon alles durchgemacht hat …
Warum auch nicht mal auf polemische Weise den Spieß umdrehen – anstatt immer nur den, der schweigt, als „sozial gestört“ zu etikettieren?!
Aber im Grunde glaube ich, dass so gut wie keiner von den „Vielrednern“ wirklich möchte, dass ihm unter Qualen zugehört wird. Sie brauchen ehrliche Rückmeldungen, damit sie nicht immer wieder die Grenzen ihrer Mitmenschen überschreiten – auch wenn das manchmal nicht so einfach ist.
Herzlichen Dank übrigens noch für das Gedicht: Ich kannte es bisher nur von einer Musik-CD (Rilke-Projekt von Schönhert und Fleer) und habe nie in den Büchern gefunden und auch nicht im Internet!